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/ 07.06.2013
Martin Schröder

Die Macht moralischer Argumente. Produktionsverlagerungen zwischen wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlicher Verantwortung

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011 (Bürgergesellschaft und Demokratie 35); 237 S.; 39,95 €; ISBN 978-3-531-18058-8
Dass Argumente in (öffentlichen) Aushandlungs‑ und Entscheidungsfindungsprozessen eine zentrale Rolle spielen, gehört zum Common Sense in der politikwissenschaftlichen Deliberationsforschung, aber auch in der Sprach‑ und Kommunikationswissenschaft. Ausgehend von der bei Josef Wieland entliehenen These, wonach Unternehmen, die „moralische Ansprüche öffentlich kommunizieren, [...] sich selbst an diese Kommunikation und die daraus folgenden Ansprüche“ (14) binden, wagt Schröder einen Brückenschlag zwischen Theorie und Empirie. Anhand einer Fallstudienuntersuchung von Verhandlungen über die Auslagerung von Produktionskapazitäten – und, damit verbunden: von Arbeitsplätzen – in sechs mittelständischen Unternehmen versucht er den Einfluss zu messen, den moralische Vorfestlegungen in Argumentations‑ und Verhandlungsprozessen zwischen Geschäftsführung und Arbeitnehmervertretern tatsächlich entfalten können. Moral versteht er dabei – unter Rückgriff auf Émile Durkheim – als jene gesellschaftlich gesetzten Grenzen individueller Begierden, die soziales Zusammenleben stabilisieren und dabei von den Individuen intrinsisch akzeptiert werden. Wirtschaftliches Handeln bleibt, so konstatiert Schröder, auch in modernen kapitalistischen Gesellschaften in ein soziales Umfeld eingebunden; im Unterschied zu vorkapitalistischen Zeiten sei aber das Soziale gegenüber den ökonomischen Imperativen ins Hintertreffen geraten. In der von Schröder erhobenen Unternehmenspraxis zeigt sich diese ökonomische Hegemonie in einer unternehmerischen Praxis, die Profit‑ und Renditemaximierung vor Subsistenzorientierung stellt. Wird aber – und das ist ein spannender Befund – die „individuelle Interessenverfolgung“ (220) ins extrem Egoistische verzerrt beziehungsweise überreizt, folgt dem immer wieder der Ruf nach mehr Moral: „Menschen weigern sich ab einem bestimmten Punkt zu glauben, dass die Verfolgung von Individualinteressen Kollektivinteressen fördert. Ein Alltagsverständnis sozialer Gerechtigkeit überlagert die Ideologie des Kapitalismus und insbesondere die des Neoliberalismus als Zuspitzung davon.“ (220) – Jede Hegemonie entfaltet gleichsam, wie schon Gramsci konstatiert hatte, ihr gegenhegemoniales Potenzial. Wann indes genau dieser Punkt erreicht ist, so konstatiert Schröder lapidar, ist jedes Mal wieder Verhandlungssache. Das aber wäre auch der einzige – erwartbare und in einer diskursiv und deliberativ angelegten Demokratie zu verschmerzende – Wermutstropfen in einer überaus spannenden und wichtigen Studie, deren einziges Versäumnis darin besteht, den Begriff des Arguments nicht schärfer konturiert zu haben.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.331 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Martin Schröder: Die Macht moralischer Argumente. Wiesbaden: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/9281-die-macht-moralischer-argumente_43278, veröffentlicht am 11.04.2013. Buch-Nr.: 43278 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
CC-BY-NC-SA