Timothy Snyder: Über Freiheit
Was heißt es heute, wirklich frei zu sein? In Über Freiheit entwickelt Timothy Snyder ein positives Freiheitsverständnis, das Freiheit nicht als bloße Abwesenheit von Einschränkungen, sondern als soziale Praxis versteht – geprägt von Empathie, Solidarität und Verantwortung. Anhand von fünf Formen der Freiheit verbindet er persönliche Erfahrungen mit politischer Analyse. Unser Rezensent Thomas Mirbach lobt das Buch als klug und engagiert, kritisiert aber, dass die Abgrenzung vom Konzept negativer Freiheit mitunter zu einseitig ausfällt.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder ist zweifellos ein politischer Autor. Das ließ sich schon an seinen viel gelesenen Studien der letzten Jahre erkennen[1] und es gilt in besonderer Weise für seine jüngste Publikation „Über Freiheit“[2]. Dieses Buch sei, nach den vorangegangenen Streitschriften, seine Antwort auf die Frage, „wie ein besseres Amerika aussehen könnte“ (20). Dass Snyder, bis vor Kurzem Professor für Geschichte an der Yale University in New Haven (Connecticut), jetzt an der University of Toronto lehrt, ist in der Öffentlichkeit als eine Geste des Protestes angesichts repressiver Manöver der Trump-Regierung gegenüber dem amerikanischen Wissenschaftssystem wahrgenommen worden. Diese Sicht wies Snyder zwar für seinen Fall als unzutreffend zurück[3], aber sein neues Buch wäre ohne die gesellschaftlichen Umbrüche in den USA, die zur zweiten Präsidentschaft Trumps geführt haben, in der vorliegenden Form wohl nicht geschrieben worden. Einen ebenso wichtigen Bezugspunkt stellt der imperialistische Überfall Russlands auf die Ukraine dar: „Ich bin während des Krieges in die Ukraine gekommen,“ – so erklärt der Autor eingangs – „weil ich dieses Buch über Freiheit schreiben wollte“ (12).
Radikale Kritik „negativer Freiheit“
„Über Freiheit“ setzt sich durchgehend mit einem amerikanischen Verständnis von Freiheit auseinander, das Snyder als Überzeugung charakterisiert, Freiheit bestehe wesentlich in der Abwesenheit von Hindernissen. Die in diesem Verständnis anklingende Unterscheidung von „negativer Freiheit“ (als Freiheit von) und „positiver Freiheit“ (als Freiheit zu) ist programmatisch von Isaiah Berlin ausformuliert worden[4], aber Snyder verfolgt keine explizite Auseinandersetzung mit dieser Konzeption. Mit Blick auf Berlin belässt er es bei der generellen These „Jede Vorstellung von negativer Freiheit ist leer ohne irgendeine Idee von positiver Freiheit.“ (345).[5] Man würde „Über Freiheit“ mit falschen Erwartungen lesen, nähme man Snyders Ankündigung, Freiheit definieren zu wollen (13), allzu wörtlich. Obschon er explizit fünf europäische Denkerinnen und Denker als Referenzen benennt (Edith Stein, Simone Weil, Václav Havel, Leszek Kołakowski), dienen deren Überlegungen eher als fallweise Illustrationen seines Versuches, auf dem Weg „von der Philosophie zur Politik“ (17) zu zeigen, was „Freiheit als Praxis“ bedeuten könnte (283).
Die in seiner Sicht relevanten Verbindungen zwischen Freiheit als Prinzip und Freiheit als Praxis erläutert er an fünf Formen der Freiheit, die der „Logik eines Lebens“ folgen (18). Die ersten drei Formen orientieren sich an biografischen Phasen (Souveränität – Kindheit, Unberechenbarkeit – Jugend, Mobilität – junges Erwachsenenalter), die letzten beiden (Faktizität, Solidarität) markieren übergreifende „reife“ Formen der Freiheit (18). Jeder Freiheitsform ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kapitel selbst sind in – wie Snyder es nennt – „Vignetten“ unterteilt. Diese Vignetten enthalten „Erinnerungsblitze“, die erste Freiheitserfahrungen des Autors spiegeln, kurze historische Beispiele widerständigen Umgangs mit (überwiegend russischer) Repression oder rassistischer Diskriminierung in den USA vorstellen und knapp angerissene literarische oder philosophische Aussagen zum Thema zitieren. Damit entsteht eine Darstellungsweise,[6] die die Facetten eines positiven Freiheitsverständnisses in einem Rahmen vorstellt, der von der Biografie eines Zeithistorikers gebildet wird. Das macht die Lektüre durchaus anregend, wenn die Vignetten überraschende Verknüpfungen herstellen, aber zuweilen auch ermüdend, wenn Bezüge nur angedeutet, aber nicht spezifiziert werden.[7]
Fünf Formen positiver Freiheit
Zentral für Snyders Verständnis von Souveränität als erster Form (positiver) Freiheit (43 ff.) ist die Unterscheidung von Körper und Leib. Sich selbst als Leib, also als lebenden fühlenden Körper zu verstehen, sei Voraussetzung für Sozialität und Empathie, weil damit andere Personen gleichermaßen als leibhaft gesehen werden. Nur vermittelt über die Anerkennung fremder Subjektivität sei die Entwicklung der eigenen Subjektivität möglich (70 f.). Demgegenüber bleibe die Körpersemantik physikalistisch begrenzt. Körper stellen manipulierbare Objekte in einer dinghaften Welt dar und allenfalls unter dieser Prämisse, bei der Objekte durch andere Objekte eingeschränkt werden, „ergäbe die Idee der negativen Freiheit einen gewissen Sinn“ (45). Souveränität, die begründet nur Personen zugesprochen werden könne, ist die erste Form von Freiheit, weil sie qua Geburt für das Vermögen steht, anfangen zu können (76 ff.). Snyder spielt hier, ohne es weiter auszuführen, auf Hannah Arendts Überlegungen zum Faktum der Natalität an, also der Gebürtlichkeit als ontologische Voraussetzung der Fähigkeit in Freiheit handeln zu können.[8]
An den Praktiken zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen die kommunistische Repression in Osteuropa – exemplarisch am Auftreten von Václav Havel in der Tschechoslowakei nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes dargestellt – erläutert Snyder Unberechenbarkeit als zweite Form der Freiheit: „Die moderne Tyrannei […] erforderte nicht Hingabe, sondern Berechenbarkeit.“ (92). Demgegenüber kennzeichnet souveräne, weil freie Menschen die Unberechenbarkeit ihres Handelns. In einer unaufhörlichen Abfolge von Entscheidungen in einem Arrangement einzigartiger Umstände folgten sie ihren eigenen Wertekombinationen und bejahten diese Unberechenbarkeit der jeweils anderen (94). Breiten Raum nimmt in diesem Kapitel die Auseinandersetzung mit der modernen Tyrannei ein, die aus der „digitalen Nemesis“ entstehe (127 ff.). Algorithmen und soziale Medien seien darauf angelegt, durch experimentelle Isolation Menschen in Körper zu verwandeln, deren Verhalten – eben weil berechenbar – vorhersagbar wird. Wiederum mit Hannah Arendt gesprochen würde diese Digitalisierung der Kommunikation auf eine Dominanz der Logik des Herstellens gegenüber der Logik des (politischen) Handelns hinauslaufen.[9]
Mobilität, die dritte Form der Freiheit, betrifft Bewegungsfähigkeit im umfassenden, nicht nur raum-zeitlichen Sinn, sie bezieht sich ebenso auf Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen und sozialen Diensten wie Gesundheitsversorgung oder Alterssicherung (145 ff.). „Mobilität fühlt sich persönlich an, ist aber politisch“ (154). Diese Form der Freiheit ist grundsätzlich abhängig von vorhandenen Strukturen und vom Handeln anderer. Zwei strukturelle Einschränkungen der dritten Form von Freiheit behandelt Snyder ausführlich und explizit bezogen auf die USA: Rassismus, soziale Ungleichheit und deren eklatantes Zusammenspiel in der Sozialpolitik und der Handhabung der Strafjustiz. Die in den 1980er-Jahren einsetzende oligarchische Wende habe Mobilität drastisch erschwert und den Diskurs über Freiheit systematisch so weit verengt, „bis das Wort ‚freedom’ im amerikanischen Englisch kaum mehr bedeutete, als das Privileg einiger weniger reicher Amerikaner, keine Steuern zu zahlen“ (168).
Positive Freiheit „ist eine Präsenz, keine Abwesenheit“ (188), daraus ergibt sich für Snyder mit Faktizität die vierte Form der Freiheit als Wissen in der Welt zu sein (208 f.). Die Einhaltung von Faktizität erfordere einerseits individuelle Wahrhaftigkeit, also die Bereitschaft zur Unterscheidung zwischen Fakten und beliebigen Meinungen (217), andererseits seien institutionelle Vorkehrungen gemeinsamer Tatsachenermittlungen und -interpretation unverzichtbar (225). Aktuelle Bedrohungen dieser Form der Freiheit stellen tiefgreifende Änderungen des klassischen Mediensystems dar; Snyder verweist auf den Niedergang des Lokaljournalismus in den USA (228 f.) und die Etablierung sozialen Medien als Informationsinfrastruktur, die nicht berichtet, sondern nur wiederholt (227 f.). Faktizität steht damit für den gemeinsamen Horizont geteilter Fakten, „über die Menschen sprechen können“; das Internet könne diesen Horizont nicht ersetzen, denn Algorithmen und Maschinen „haben keinen Leib […] und sind keine Sprecher“ (233).
Wie schon an den ersten vier Formen von Freiheit abzulesen ist, plädiert Snyder für ein Verständnis von Freiheit, das in unterschiedlicher Weise auf soziale Kooperationszusammenhänge angewiesen ist. Explizit benennt er deshalb Solidarität als fünfte Form von Freiheit (239 ff.). Freiheit bedarf der Solidarität in einem doppelten Sinn. Einerseits sei die Kooperation mit anderen Menschen Bedingung individueller Freiheit, denn nichts von dem, „was wir brauchen, um frei zu werden, […] können wir selbst produzieren“ (239). Andererseits könne ohne solidarische Einbettung von Freiheit kulturelle Pluralität nicht gedacht werden. Angesichts der unbezweifelbaren Heterogenität der Werte, die menschliche Existenz auszeichnet, ermögliche solidarisch verstandene Freiheit, „dass diese Unterschiede in uns und in der Welt, die wir um uns herum gestalten, zum Tragen kommen“ (240). So sei ein diskriminierungsfreies Wahlrecht – wovon gegenwärtig in den USA nicht die Rede sein könne – ein Beispiel für angewandte Solidarität (243). Dem amerikanischen Verständnis von (negativer) Freiheit schreibt Snyder etliche entsolidarisierende Effekte zu: Eskapismus der Oligarchen (248 ff.), naive Marktgläubigkeit, die dem Markt selbst Rechte zuschreibt (257 ff.), Fetischisierung von Effizienz zu Lasten von Tugenden (260 ff.) und Propagierung eines steuer- und regierungsfeindlichen Libertarismus (264 ff.).
Das abschließende Kapitel „Regierung“[10] resümiert die praktische Bedeutung, die den fünf Formen von Freiheit im Kontext der Politikfelder zukommen könnte, auf die sich Snyder zuvor immer wieder kritisch bezogen hat. Die Forderungen, die er dabei vor allem mit Blick auf Gesundheits-, Bildungs-, Justiz-, Verteilungs- und Medienpolitik in den USA aufstellt, erscheinen – aus „europäischer“ Sicht – plausibel und wenig strittig. Die Forderungen umschreiben die Notwendigkeit einer Erneuerung der amerikanischen Republik angesichts der unübersehbaren Privilegierung von Reichtum bei den Wahlen. Diese Privilegierung „stellt dem oligarchischen Übergang die Macht und das Prestige der bestehenden Regierung zur Verfügung – Geldwäsche durch Demokratiebeschmutzung sozusagen“ (294).
Fazit
Man kann Snyders Buch auf verschiedene Weise lesen. Eine Lesart könnte sich auf sein leidenschaftliches Votum für ein (positives) Freiheitsverständnis beziehen, das Freiheit wesentlich aus intersubjektiven Kooperationszusammenhängen ableitet. Anregend (und zugleich diskussionsbedürftig) sind seine praktischen Illustrationen eines Handelns, in dem sich die so verstandene öffentliche Freiheit ausdrückt. Allerdings macht er es sich in der Abgrenzung vom Gegenmodell negativer Freiheit oftmals zu leicht, wenn er es überwiegend in Gestalt eines radikalen gesellschaftsblinden Individualismus auftreten lässt und die Bedeutung individueller Schutzrechte für die Abwehr übergriffiger Fundamentalismen nicht diskutiert. Bezogen auf den Wertepluralismus moderner säkularisierter Gesellschaften wäre eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Spannungen angemessener, die sich aus dem normativen Dualismus von negativer oder positiver Freiheit ergeben.[11]
Eine zweite Lesart könnte sich auf die zeitdiagnostische Intention des Buches richten und Trumps zweite Amtszeit verleiht dieser Perspektive zweifellos zusätzliche Aktualität. Mit außerordentlicher Schärfe zeichnet Snyder strukturelle Erosionen – Oligarchisierung, steigende soziale Ungleichheit, ungesteuerte Digitalisierung, Zerfall politischer Öffentlichkeit – moderner Demokratie nach, die sich aus Widersprüchen zwischen Postulaten demokratischer Selbstregierung und der Durchsetzungsfähigkeit kapitalistischer Handlungslogiken ergeben. Auch wenn sich diese Diagnose hauptsächlich auf spezifische Gegebenheiten in den USA bezieht, hat sie unstrittig Relevanz für den europäischen Raum. Dies selbst dann, wenn man Snyders Menetekel, die rhetorische Komplizenschaft von Trump und Putin öffne den Raum für länderübergreifenden Autoritarismus, für übertrieben hält.
Anmerkungen:
[1] 2015: „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“. 2017: „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“. 2018: „Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika“, alle bei C.H. Beck München erschienen.
[2] Snyder, Timothy (2024): Über Freiheit. München: C.H. Beck.
[3] Vgl. „Die Leute fliehen vor Trump. Aber ich bin nicht weggelaufen“. Interview mit Timothy Snyder. In: Süddeutsche Zeitung, Samstag/Sonntag, 26./27. April 2025, Nr. 96, S. 16 f.
[4] Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt a. Main: S. Fischer, S. 197 – 256.
[5] Verknüpft mit dem ironischen Kommentar, Berlins klare Unterscheidung „verdankt sich eher seinem Aufsatz als der Ideengeschichte“. (345).
[6] Von Snyder selbst in einem Interview als „Mischung aus Memoir, Geschichte und Philosophie“ bezeichnet, vgl. Zentrum Liberale Moderne. „Über Freiheit” – Interview mit Timothy Snyder. (https://libmod.de/ueber-freiheit-interview-timothy-snyder/) (Abruf 10.05.2025)
[7] Auch im umfangreichen Fußnotenapparat stehen neben Quellenbelegen etliche weiterführende, aber nur angerissene Themenbezüge.
[8] Vgl. Hannah Arendt (1960): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer, S. 15 f.
[9] Vgl. Hannah Arendt (1960): Vita activa. S. 124 ff.
[10] Geschrieben – so der Autor – in der Ukraine „auf dem Rücksitz eines Autos, während ich auf die Küste des Schwarzen Meeres hinterblicke“ (275).
[11] Mit Blick auf Voraussetzungen einer „demokratischen Sittlichkeit“ geht Albrecht Wellmer diesem Zusammenhang nach, vgl. Wellmer, Albrecht: Freiheitsmodelle in der modernen Welt. In: ders. (1993): Endspiele: Die unversöhnliche Moderne. Essays und Vorträge. Frankfurt a. Main: Suhrkamp; S.15 -53.