/ 03.06.2013
Heike Kuhn
Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft
Berlin: Duncker & Humblot 1995 (Schriften zum Europäischen Recht 22); 451 S.; 112,- DM; ISBN 3-428-08310-5Rechtswiss. Diss. Speyer; Erstgutachter: S. Magiera. - 1989 haben die Staats- und Regierungschefs die "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" verabschiedet. Das gesamte Maastrichter Vertragswerk drohte zu scheitern, weil unüberbrückbare Kontroversen zwischen dem Vereinigten Königreich und den anderen Ländern über den "europäischen Sozialraum" vorhanden waren. Warum wird dieser Politikbereich der Europäischen Union als so besonders sensibel angesehen? Gründe hierfür sind u. a., daß
- Maßnahmen im sozialen Bereich als "Einbruch in eine als 'Innenpolitik' aufgefaßte Domäne" (405) verstanden werden;
- unterschiedliche, historisch gewachsene Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten auch divergierende Erwartungen bedingen;
- Kompetenzen nicht allein bei staatlichen Institutionen liegen, sondern zwischen den Sozialpartnern und dem Gesetzgeber geteilt sind;
- im sozialen Bereich eine unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen gegeben ist.
Ziel der Arbeit ist es, "das gemeinschaftliche Tätigwerden im sozialen Bereich zu erfassen und rechtlich zu würdigen" (31). Die Studie wurde vor Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union abgeschlossen, weshalb von der Europäischen Gemeinschaft die Rede ist.
Als adäquate Instrumente in diesem Politikfeld haben sich Richtlinien erwiesen, da sie den Vorteil bieten, jedem Mitgliedstaat nur einen Rahmen vorzugeben, den er jeweils gemäß seinen Bedürfnissen ausfüllen kann. Das gleiche gilt auch für Mindestvorschriften. Die genannten Rechtsinstrumente verschaffen dem Bürger durchsetzbare Ansprüche, im Gegensatz zu der von den Staats- und Regierungschefs verabschiedeten Charta, die lediglich proklamatorischen Charakter hat.
Die Autorin geht vom Europa der zwei Geschwindigkeiten im sozialen Bereich aus (409). Die Kommission spricht von einer "doppelten Subsidiarität", da zwischen einer nationalen und einer gemeinschaftlichen Regelung sowie einer gesetzlichen und tariflichen Regelung zu unterscheiden sei (409).
Erfolge wurden bisher in den Bereichen erzielt, die den Faktor Arbeit (Mobilität und Arbeitsschutz) sowie das "soziale Gewissen" Europas (z. B. Integration von Behinderten) betreffen (406). Die Chancen für die Weiterentwicklung des sozialen Bereichs sieht die Autorin positiv. Sie geht insofern von einer Vertiefung der Integration aus, als der Rat im April 1994 beschlossen hat, Richtlinien nur noch mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen, was die Konsensfindung beschleunigt. Zudem enthält der genannte Ratsbeschluß eine Stärkung der rechtlichen Stellung der Sozialpartner, die vermutlich eine stärkere Zusammenarbeit im sozialen Bereich bewirken wird. Kuhn prognostiziert, daß aufgrund der Interdependenz von wirtschaftlichen und sozialen Fragen im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion "längerfristig die Europäische Sozialunion nachfolgen wird" (411). Mittlerweile habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die soziale Dimension die Anziehungskraft Europas steigern wird, "vermag sie doch ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten des Binnenmarktes herbeizuführen, das für die Stabilität und Kontinuität der Gemeinschaft als unabdingbare Voraussetzung erscheint" (411).
Aus dem Inhalt: 1. Die gemeinschaftliche Praxis im sozialen Bereich. 2. Bewertung einzelner gemeinschaftlicher Maßnahmen im sozialen Bereich aus rechtlicher Sicht: A. Einflüsse des Gemeinschaftsrechts auf individuelle Arbeitsverhältnisse; B. Der Transfer von Leistungen der sozialen Sicherheit als "Sozialtourismus"; C. Der Soziale Dialog auf europäischer Ebene. 3. Bilanz und Perspektiven: Von der Errichtung eines Europäischen Sozialraums zur Europäischen Sozialunion: A. Die Begriffe "Sozialraum" und "Sozialunion"; B. Die Kompetenzen der Gemeinschaft im sozialen Bereich; C. Das Protokoll über die Sozialpolitik mit dem darin enthaltenen Abkommen der Elf als weiterer Schritt auf dem Wege zur Errichtung einer Europäischen Sozialunion.
Sabine Steppat (Ste)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 3.5 | 3.2
Empfohlene Zitierweise: Sabine Steppat, Rezension zu: Heike Kuhn: Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft Berlin: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/1269-die-soziale-dimension-der-europaeischen-gemeinschaft_1393, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 1393
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