/ 04.06.2013
Volker Hentschel
Ludwig Erhard, die "soziale Marktwirtschaft" und das Wirtschaftswunder/Ludwig Erhard, "l'économie sociale de marché" et le miracle économique. Historisches Lehrstück oder Mythos?/Leçon historique ou mythe?
Bonn: Bouvier Verlag 1998 (Reflexionen über Deutschland im 20. Jahrhundert); 95 S.; geb., 24,- DM; ISBN 3-416-02761-2Das schmucke Bändchen bietet in zweisprachiger Fassung einen im April 1997 am Deutschen Historischen Institut Paris gehaltenen Vortrag Hentschels. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökonomischen Krise Deutschlands thematisiert Hentschel, selbst Autor einer umfangreichen Erhard-Biographie, die Chancen einer in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wiederholt geforderten Rückbesinnung auf das Erbe der Erhardschen Wirtschaftspolitik der Sozialen Marktwirtschaft (7-9). Mit raschen Strichen und Urteilen von apodiktischer Kürze zeichnet Hentschel ein unvorteilhaftes, ja vernichtendes Bild der Person und Politik Erhards: Erhard selbst war demnach ein Mann mit schwankenden Urteilen und von geringem wirtschaftspolitischen Format (20), nicht er habe das "Wirtschaftswunder" befördert, sondern vielmehr letzteres den "Mythos Erhard" (21). Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft, ein eigenständiges, ausformuliertes ordnungspolitisches Modell zu sein, wird im Kern negiert (30), und der Beitrag der wirtschaftspolitischen Entscheidungen und Rahmenbedingungen des Jahres 1948 und der frühen Bundesrepublik zu ihrem enormen wirtschaftlichen Aufschwung ganz erheblich relativiert ("Das Wunder war ein ökonomischer Selbstläufer" [38]). Die im Untertitel formulierte Frage wird also unzweideutig zugunsten des Mythos beantwortet. Angesichts des bewußt gesuchten aktuellen Bezuges des Vortrags überrascht, daß der sich aufdrängenden historischen Parallele der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in den fünf neuen Bundesländern keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Als Ursachen der aktuellen ökonomischen Krise nennt Hentschel eine im Vergleich zur Dynamik der 1950er Jahre "alternde Wirtschaft mit Strukturdefekten, der es schwer fällt, technologisch mitzuhalten, und eine Anspruchs-Gesellschaft mit viel Hang zur Bequemlichkeit heute" (47). Auch wenn man die berechtigte Skepsis und Warnung Hentschels teilt, die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit als Heilmittel für die Gegenwart heranziehen zu wollen (8-10), so erscheinen die historischen Urteile, die diese zentrale These des Vortrags begründen sollen (12), überzeichnet, teilweise die historische Situation und die Leistungen der damals Beteiligten verzeichnend.
Antonius Liedhegener (Li)
Dr., wiss. Ass., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.uni-jena.de/svw/powi/sys/liedhege.html).
Rubrizierung: 2.313 | 2.3
Empfohlene Zitierweise: Antonius Liedhegener, Rezension zu: Volker Hentschel: Ludwig Erhard, die "soziale Marktwirtschaft" und das Wirtschaftswunder/Ludwig Erhard, "l'économie sociale de marché" et le miracle économique. Bonn: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5456-ludwig-erhard-die-soziale-marktwirtschaft-und-das-wirtschaftswunderludwig-erhard-lconomie-sociale-de-march-et-le-miracle-conomique_7140, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7140
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Dr., wiss. Ass., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.uni-jena.de/svw/powi/sys/liedhege.html).
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